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Fragen und Antworten

Mündlichen Fragen Nrn. 1690+1691

18. April 2024 – Fragen von C. Kraft und S. Piront an Ministerin KLINKENBERG zur Forderung des RDJ und der ostbelgischen Schülerräte nach einem eigenen Schulfach Bürgerkunde

Wie bewertet die Regierung den aktuellen Fortschritt und die Effektivität der fächerübergreifenden Integration von Bürgerkompetenzen im Schulcurriculum?

Die nachfolgend veröffentlichte Frage und die Antwort entsprechen den hinterlegten Originalfassungen. Die endgültige Version ist im Bulletin für Interpellationen und Fragen (BIF) veröffentlicht. 
 
Frage Nr. 1690 von Colin Kraft (CSP) zur Forderung des RDJ und der ostbelgischen Schülerräte nach einem eigenen Schulfach Bürgerkunde:
 
Im Rahmen einer parlamentarischen Anhörung im zuständigen Ausschuss betonten Vertreter des Rat der deutschsprachigen Jugend (RDJ) am 26. März die Forderung nach einem eigenen Schulfach Bürgerkunde. Nur zwei Tage später formulierten die Vertreter der ostbelgischen Sekundarschülerräte im Rahmen ihres Parlamentsbesuchs am 28. März eine identische Forderung. Der Bitte nach einem eigenständigen Fach Bürgerkunde wird also zunehmend vonseiten der ostbelgischen Jugend und der SchülerInnen formuliert. 
 
Ich möchte diese Impulse zum Anlass nehmen, Ihnen die folgende Frage zu stellen: 
- Ist die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft bereit, von ihrem fächerübergreifenden Ansatz der politischen Bildung abzuweichen und das u.a. vom RDJ geforderte eigene Schulfach “Bürgerkunde” zu schaffen? 
 
 
Frage Nr. 1691 von Shayne Piront (PFF) zur Optimierung der Kompetenzvermittlung zum Thema Bürgerkunde: Evaluation und Weiterentwicklung des fächerübergreifenden Ansatzes:
 
In der Diskussion um die Vermittlung essentieller Bürgerkompetenzen wie finanzielle Bildung, Versicherungswesen, Steuerkunde, kulturelle Weltanschauungen, Wertevermittlung, politische Bildung und Medienkompetenz gibt es unterschiedliche Ansätze, wie diese in den Lehrplan integriert werden sollten. Unsere Fraktion setzt sich für die Einführung eines eigenständigen Faches "Bürgerkunde" ein, mit einem spezifisch dafür entwickelten Rahmenplan. Dies würde es ermöglichen, ein strukturiertes und kohärentes Curriculum zu bieten, das Schülerinnen und Schülern erlaubt, diese fundamentalen Kompetenzen systematisch und umfassend zu erlernen.
 
Ein solcher Ansatz würde nicht nur die Bedeutung dieser Fähigkeiten unterstreichen, sondern auch die Qualität des Lernens sichern, indem ein klarer Lehrplan vorgegeben wird, der aufeinander aufbauende Lernziele festlegt und so tieferes Verständnis sowie nachhaltige Lernergebnisse fördert.
 
Im Kontrast dazu favorisiert Ihre Fraktion einen fächerübergreifenden Ansatz, bei dem die genannten Kompetenzen in bestehende Unterrichtsfächer integriert werden. Während dies Flexibilität in der Lehrplangestaltung ermöglicht und thematische Synergien nutzen kann, sind damit auch Herausforderungen verbunden, insbesondere hinsichtlich der konsistenten und umfassenden Vermittlung dieser essenziellen Fähigkeiten.
 
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie um Auskunft zu folgenden Punkten bitten:
1. Wie bewertet die Regierung den aktuellen Fortschritt und die Effektivität der fächerübergreifenden Integration von Bürgerkompetenzen im Schulcurriculum?
2. Welche Mechanismen sind implementiert oder geplant, um die Qualität und Vollständigkeit der Kompetenzvermittlung durch den fächerübergreifenden Ansatz zu überwachen und sicherzustellen?
3. Gibt es Überlegungen oder Pläne, aufgrund der Rückmeldungen von Lehrkräften, Schülern und Eltern den bestehenden Ansatz zu modifizieren oder weiterzuentwickeln?
 
 
Antwort von Lydia Klinkenberg (ProDG), Ministerin für Unterricht, Ausbildung, Kinderbetreuung und Erwachsenenbildung:
 
Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
 
die politisch-demokratische Bildung der Lernenden ist eine gesamtsystemische Aufgabe aller Bildungseinrichtungen und aller Lehrenden. Politisch-demokratische Prozesse müssen nicht nur gelernt, sondern im Schulleben und in der Schulgemeinschaft gelebt werden. Die komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen erfordern eine ganzheitliche fachübergreifende Auseinandersetzung, damit sich die Lernenden aus unterschiedlichen Perspektiven mit den komplexen Themen auseinandersetzen, darunter
 
Nachhaltigkeit
Identität, Gesellschaft und Demokratie
innergesellschaftliche und internationale Konflikte
Sozialstruktur und soziale Ungleichheit
sozialer und kultureller Wandel
Menschenrechte
sozio-technischer Wandel und Digitalisierung
Ökonomie und Gesellschaft
Globalisierung, globale Verflechtungen und Migration
Um alle Lernenden zu befähigen, als mündige Bürger im Alltag bewusste Entscheidungen zu treffen und an gesellschaftlichen und politisch-demokratischen Prozessen mitzuwirken und sich zukünftigen Herausforderungen zu stellen, müssen die Maßnahmen zur Förderung der politischen Bildung intensiviert werden. Es braucht mehr politische Bildung in unseren Schulen, da sind wir uns sicher einig.
Wir haben bereits eine Reihe von Maßnahmen ergriffen und haben weitere im Rahmen der Bildungsstrategie zur Erreichung der Bildungsvision 2040 geplant. Erlauben Sie mir daher, dass ich erst auf die verschiedenen Maßnahmen eingehe, bevor ich auf die Frage des Faches zu sprechen komme.
Der rahmenplanorientierte Leitfaden für die politisch-demokratische Bildung in Ostbelgien definiert die Kompetenzen, die die Lernenden benötigen, um die großen
Herausforderungen unserer Zeit in ihren Zusammenhängen zu begreifen und anzugehen. Als roter Faden für die politisch-demokratische Bildung in allen Schulstufen der Primar- und Sekundarschulen wird der Leitfaden auf der Grundlage aktueller und künftiger Herausforderungen kontinuierlich weiterentwickelt und unter anderem um ökonomische Kompetenzen ergänzt.
Die wesentlichen Kompetenzen aus dem Leitfaden politisch-demokratische Bildung sollen in die Fachrahmenpläne integriert und somit verbindlich werden. So soll sichergestellt sein, dass politische Bildung systematisch in allen Fächern und Schulstufen vermittelt wird.
Bekanntlich haben in den Sekundarschulen die Middle Manager die Aufgabe, die Vermittlung politischer Bildung in allen Fächern zu koordinieren. Deshalb gewähren wir seit dem Schuljahr 2022-2023 jeder Regelsekundarschule eine zusätzliche Middle Manager Stelle. Das Middle Management der Regelsekundarschulen gewährleistet die Koordination, Implementierung, Umsetzung und Evaluation der Vermittlung von fächerübergreifenden Kompetenzen, unter anderem der politischen Bildung. Die aus den schulinternen Evaluationen gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Arbeit der Fachberatung politisch-demokratische Bildung mit ein und führen zu einer ständigen Aktualisierung der Angebote.
Das Netzwerk politisch-demokratische Bildung, das durch den Fachbereich Pädagogik koordiniert wird und an dem Middle Manager aus allen Sekundarschulen mitwirken, soll künftig weiter ausgebaut werden. Ziel ist es, den schulübergreifenden Austausch zu stärken, damit Schulen bei der Umsetzung ihrer Konzepte zur politisch-demokratischen und nachhaltigen Schulentwicklung voneinander lernen.
Die Angebote der Programme „Wirtschaft macht Schule“ und „Demokratie macht Schule“ sollen evaluiert und ggf. ausgebaut werden, um die Schulen bei der Kompetenzvermittlung zu unterstützen.
Um die Lehrenden zu befähigen, den Schülern Kompetenzen der politisch-demokratischen Bildung, darunter auch der Bildung zur nachhaltigen Entwicklung und der ökonomischen Bildung, sowohl fachbezogen als auch fächerübergreifend zu vermitteln, müssen die Lehrenden entsprechend weitergebildet werden. Fortbildungsangebote werden ihnen unter anderem von der Fachberatung für politisch-demokratische Bildung unterbreitet, die ich 2022 zur Unterstützung der Schulen ins Leben gerufen habe.
 
Die Fachberatung politisch-demokratische Bildung verfolgt fünf zentrale Schwerpunkte.
1. Durch Weiterbildungen, Workshops und andere Maßnahmen sollen Lehrenden Fachkenntnisse insbesondere in den Bereichen demokratische Prozesse, Nord-Süd- Beziehungen, Partizipation und Bildung zur nachhaltigen Entwicklung, vermittelt werden.
2. Vorhandene Bildungsangebote in der politischen Bildung und nachhaltiger Entwicklung sollen gebündelt werden, um ein umfassendes und koordiniertes Verzeichnis zu schaffen. Dadurch soll Lehrenden ein leichterer Zugang zu relevanten Ressourcen und Programmen ermöglicht werden.
3. Die Fachberatung stellt den Lehrenden eine sorgfältig zusammengestellte Auswahl an getesteten, geprüften und empfohlenen Materialien zur Verfügung.
4. Die Fachberatung begleitet maßgeschneiderte Projekte. Sie bietet bedarfsgerechte Unterstützung und Beratung an, um sicherzustellen, dass jedes Projekt optimal entwickelt, umgesetzt und evaluiert wird.
5. Durch die Förderung von Netzwerkarbeit und den Austausch bewährter Praktiken möchte die Fachberatung eine nachhaltige Plattform schaffen. Ziel ist es, relevante Erfahrungen zu teilen und bewährte Praktiken zu verbreiten.
Im Rahmen der Bildungsstrategie zur Realisierung der Bildungsvision 2040 sehen wir  vor,  dass  die  schulen  schulinterne  Konzepte  zur  demokratischen
 
Schulentwicklung erstellen und implementieren. Dazu stehen ihnen sowohl die Fachberatung als auch die Schulentwicklungsberatung unterstützend zur Seite.
Die Konzepte sollen verschiedene Maßnahmen enthalten, unter anderem
- Maßnahmen zur Förderung der gelebten Mitbestimmung durch alle Bildungsakteure – Personalmitglieder, Lernende und Erziehungsberechtigte
- Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit im Schulalltag. Durch die Einführung, Umsetzung und Weiterentwicklung solcher Konzepte lernen die Schülerinnen und Schüler, ressourcenschonend mit Energie, Wasser und Nahrungsmitteln umzugehen und ihren ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich zu halten. Sie werden befähigt, durch alltägliche Entscheidungen ihre bürgerliche Verantwortung für die Welt von morgen zu übernehmen. Die Konzepte enthalten
- Maßnahmen zur Förderung ökonomischer Kompetenzen. Bei der Kompetenzvermittlung werden praxisnahe Inhaltskontexte und Instrumente wie Online-Banking-Simulationen, Budgetverwaltung oder Steuersimulationen genutzt.
- Maßnahmen zur Evaluation der Zielerreichung, um ggf. Anpassungen vornehmen zu können
- Maßnahmen zur Professionalisierung der Lehrenden.
Schließlich soll die politisch-demokratische und nachhaltige Schulentwicklung in den Qualitätsrahmen integriert und durch die externe Evaluation von Schulen evaluiert werden.
 
Lassen Sie es mich klar sagen: Ich verstehe die Forderung der Jugendlichen nach mehr politischer Bildung und teile sie. Es dürfte mittlerweile klar geworden sein, dass ich die politische Bildung in unseren Schulen stärken möchte und schon zahlreiche Maßnahmen ergriffen habe, darunter die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen in den Schulen und die Schaffung der Fachberatung politisch demokratische Bildung. Auch das Vorhaben, die politisch-demokratischen Kompetenzen in die Rahmenpläne aufzunehmen und verbindlich zu machen, soll zur verstärkten durchgängigen politischen Bildung beitragen. Und das Vorhaben, dass Schulen künftig Konzepte zur demokratischen Schulentwicklung entwickeln und implementieren sollen, verfolgt auch das Ziel, die politische Bildung im Unterricht und darüber hinaus im gelebten Schulalltag zu stärken.
Die Frage, die sich hier stellt, ist letztlich eine methodologische.
Schulen müssen in meinen Augen ermutigt werden, die bestehenden unterrichtsorganisatorischen Möglichkeiten zu nutzen, um Zeiträume – nennen Sie es ein
„Fach“ - für projekt- und themenorientierten Unterricht zu schaffen. So können fachübergreifende Kompetenzen nicht nur in den Fachunterrichten, sondern auch in dafür vorgesehenen Projektzeiträumen gefördert werden. Im projekt- und themenorientierten Unterricht bearbeiten Schüler fächerübergreifende Themen in Form von Projekten. Der Einsatz von Medien und kooperativen Lernformen wie Gruppenarbeit und Partnerarbeit fördern dabei zusätzlich die Medien-, Kooperations-, Kommunikations- und Lernkompetenz. Dazu soll ein Erfahrungsaustausch zwischen Schulen ermöglicht werden, sodass Schulen von anderen Bildungseinrichtungen, die bereits innovative Wege in der Unterrichtsorganisation beschritten haben, lernen können.
Zusätzlich können und sollen in den Fachunterrichten weiterhin fachübergreifende Kompetenzen vermittelt werden, indem beispielsweise Lernaufgaben vermehrt so gestaltet werden, dass sie verschiedene fachübergreifende Kompetenzen fördern.
Politische Bildung und Demokratiebildung sind an den Grund- und Sekundarschulen in Ostbelgien Aufgabe aller Unterrichtsfächer und werden es auch bleiben müssen, auch dann wenn es ein Fach Bürgerkunde oder zeitliche Freiräume für Projektarbeit gibt. Der Erwerb politischer Methoden-, Urteils- und demokratischer Handlungskompetenzen kann nur gelingen, wenn er im Fachunterricht, im fachübergreifenden und fächerverbindenden Unterricht stattfindet und als Aufgabe der gesamten Schulgemeinschaft wahrgenommen wird. Selbst wenn zeitliche Freiräume geschaffen werden, wie es bereits möglich ist, oder ein Fach Bürgerkunde eingeführt würde, müssten die entsprechenden Kompetenzen weiterhin in allen Fächern gefördert werden, damit die Lernenden die Herausforderungen in ihrer Komplexität und ihren diversen fachlichen Dimensionen begreifen. Denn das eigentliche Problem ist ja nicht, Freiräume für ein Fach zu schaffen, die unterrichtsorganisatorischen Möglichkeiten bestehen ja bereits, sie werden nur nicht überall
 
genutzt. Die weitaus größere Herausforderung ist, dass die eingangs erwähnten komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen, auf die die Lernenden vorbereitet werden müssen, multidisziplinäre Ansätze erfordern und die Fachexpertise eines einzelnen Lehrers oftmals übersteigen. Derart komplexe Phänomene sprengen die Grenzen eines Faches. Ein Fach kann da höchstens ergänzend unterstützen. Auf keinen Fall aber können die anderen Lehrer aus der Verantwortung entlassen werden, in ihren Fachunterrichten diese Themen aus ihren jeweiligen Perspektiven zu beleuchten.
 
Die Kinder und Jugendlichen müssen die gesellschaftlichen Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven analysieren, sie miteinander in Bezug setzen und verstehen. Nur so können sie ein ganzheitliches Verständnis gewinnen und Lösungsansätze entwickeln. In unserer pluralistischen Gesellschaft ist das demokratische Miteinander mehr als ein Unterrichtsfach, es wird als Schulprinzip angesehen. An diesem Grundverständnis werden wir uns auch in Zukunft orientieren.
 
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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